I Am Not Your Negro - Die chokhafte Erkenntnis

 

„›So wäre also, sagte Bernard tiefsinnig, das ganze große

Menschendaseyn nichts in sich Festes und Begründetes?

Es führt vielleicht zu nichts, und hätte nichts zu bedeuten?

Thorheit wäre es, hier historischen Zusammenhang und eine

große poetische Composition zu suchen: eine Bambocchiade

oder ein Wouvermanns drückten es vielleicht am richtigsten aus? 

Das kann wohl seyn, sagte Peter. 

Gottlieb Färber, Die 7 Weiber 

Arno Schmidt: Abend mit Goldrand.

 

 

1.

 

Unser Textraum ist auserzählt. Die Geschichten, die es zu erzählen gab, wurden bereits erzählt. Die kanonischen europäisch-amerikanische Kulturschaffenden seit dem Zweiten Weltkrieg tragen sich schon länger mit diesem Gedanken in Schwangerschaft. (Vielleicht ist dies auch einer der Gründe, warum man einst eine Briefmarke mit hassliebendem Speichel auf das Projekt der Moderne klebte und fortan einige von „Postmoderne“ sprachen.) Mag dieses Credo auch unfruchtbar klingen, so ist es nicht mit Unproduktivität zu verwechseln. „Auserzählt“ meint nicht „begrenzt“, meint nicht „vollends verstanden“. Es geht für uns alle darum, weiter zu schreiben, den Raum zu gestalten, ihn neu zu unterbrechen und das Zitat und das Zitieren an sich als eines der wirkmächtigsten ästhetischen Verfahren zu seiner verdienten Ehre kommen zu lassen. Auch – wie sich hier später zeigen soll – in einem geschichtsphilosophischen Sinne. 

 

Texte die bleiben, sind unvollendet, flexibel und können nicht zuletzt weit über sich hinaus weisen. Ein Zitat weist aber gewiss nicht nur auf vergangenes zurück. Das Zitat als ästhetisches Mittel weiß längst, dass auch Vergangenes auf das noch Kommende Bezug nimmt. Der Literaturtheoretiker Hans Jost Frey schreibt in Der unendliche Text:

  

Die Textbeziehung beim Zitieren ist reziprok. Er wird nachträglich zur Ankündigung von Möglichkeiten, die ihm vorher fremd waren. Das Zitat ist der Antitypus, zu dem es in seinem originalen Zusammenhang erst durch sein späteres Zitiertwerden geworden ist. Als endlos zitierbare sind die Texte nie, was sie sind.“  

 

Das Zitat steht seit nun schon viel zu langer Zeit unter dem Verdacht bloße Autoritätsbekundung zu sein; oder wohlwollend ein Bilder- und Kreuzworträtsel für interessierte Nerds. Zwar gab man Filmen wie Pulp Fiction oder Büchern der deutschen „Popliteratur“ gerne mit auf den Weg, dass sie mit ihren Zitaten und der Art wie sie montiert sind, „ganz tolle Kunst“ schaffen würden. Aber eine solche gönnerhafte Theorie begnügt sich an diesen Stellen gerne nur mit Lippenbekenntnissen.

 

In der Hitze der Nacht sind Zitate nicht mehr bloße platonische Liebe. Wie ein Diamant an einer Halskette erstrahlen Zitate für den aufmerksamen Betrachter den überzeitlichen Zusammenhang oder können das schmuckhafte (selbst)denunzieren als ein Machtinstrument der Klassengesellschaft. Zitate machen deutlich, dass ein Text nie vergangen ist. Er findet stets in der jetzigen Lektüre statt. Als dauernde sind sie der Veränderung ausgesetzt. So verhält es sich auch mit der Geschichte. William Faulkner sagte: „Das Vergangene ist nie tot, es ist nicht einmal vergangen.“

 

Walter Benjamin wusste um die erkenntniskritischen Möglichkeiten oder wie er sagt um die „chokhafte Erkenntnis“ die Zitate erwirken können. Mit ihm werden wir hier zum einen die ästhetischen Möglichkeiten des Zitats anhand des Films I Am Not Your Negro von Raoul Peck lesen und zum anderen diese Möglichkeiten auf Benjamins geschichtsphilosophischen Thesen beziehen, um so vollends das Zitat als ästhetisch-kritisches Instrument der Zeitdiagnose zu verstehen.

 

 

 

2.

 

I Am Not Your Negro ist eine Dokumentation über das unvollendete Projekt Remember This House des Schriftstellers James Baldwin. Er wollte eine Geschichte dreier Bürgerrechtler schreiben, die sich besonders gegen die Rassentrennung und für Gleichberechtigung in den USA engagierten: Martin Luther King, Malcom X und Medgar Evers. Es ist aber auch eine persönliche Auseinandersetzung mit einer rassistischen Sozialisation in der Baldwin aufwuchs.

 

Diese Sozialisation manifestiert sich für Baldwin auch in der Kultur. Besonders in der Filmkultur. Raoul Peck schafft es diese Sozialisation für die Zuschauer erfahrbar zu machen. Seine Mittel sind Zitat und Montage:

 

In einer Szene wird ein Ausschnitt aus dem Film „Ein Pyjama für Zwei“ von Delbert Mann aus dem Jahr 1961 gezeigt, in der Doris Day, eine weiße, konservativen Schönheitsidealen entsprechenden Frau, träumerisch Gläser in ihrer Küche anfasst. Sie schaut schwärmend in den Himmel; ihre weiße Bluse voller glitzernder Pailletten funkelt. Schnitt. In der ersten Halbsekunde meint man nun ebenfalls ein schlafendes, träumendes Gesicht zu sehen, bis man sieht, dass es eine gelynchte schwarze Frau an einem Strang ist.

 

Ein Werbefilm der US-Regierung aus den 60ern zeigt die vermeintlichen Vorzüge des abenteuerlich-schönen (weißen) Amerikas. Diese Bilder werden gegengeschnitten mit Unruhen der schwarzen Bevölkerung in Kalifornien und deren Niederschlagung. Der Film „Ein Pyjama für Zwei“ und auch der Werbefilm haben diese Lesart natürlich so nie intendiert. An der Montage dieser zwei Zitate wird dennoch die weiße Verlogenheit und ihr implizierter Rassismus deutlich. Es suggeriert einen zärtlichen unschuldigen Tanz. Es ist jedoch ein Tanz der Unterdrückung und die Kulturindustrie ist hier ihr Erfüllungsgehilfe.

 

Die Sinngeschwindigkeit, die zwischen diesen beiden Zitaten erzeugt wird, setzt einen Bruch der Erkenntnis ins Bild. Die Brüchigkeit dieser scheinhaft für sich genommen kohärenten Filmszenen erzeugt eine Art blitzhafte Erkenntnis. Eine chokhafte Erkenntnis. Eine Kultur der weißen Bevölkerung in Amerika wird zitiert und mit einem anderen Zitat gegenmontiert und denunziert sich als das, was es ist: verlogene, gewalttätige Unterdrückung. Man wird durch die Montage nicht „überzeugt“, sondern sie fordert einen auf, selbst zu prüfen. Erst durch den Rezipienten wird die Montage und so die kritische Arbeit in uns zu einem Ende gebracht. Diese Zitate brauchen keine sprachlichen Erläuterungen, sie weisen über sich hinaus, sprechen für sich oder man könnte sagen sie bilden für sich.

 

Walter Benjamin wusste um dieses Potenzial von Zitat und Montage. Besondere Aufmerksamkeit bekommt sie in seiner Fragment gebliebenen „Passagenarbeit“. Sie steht wie eine schattige Sonne im Mittelpunkt des Denkens von Benjamin. Es ist sein unvollendetes messianisch-alchimistisches Grand Œuvre. Michael Makropoulos schreibt, dass sie „eine phänomenologisch gesättigte, sozialphilosophisch fundierte und geschichtsphilosophisch substantiierte Theorie der Moderne“ geworden wäre. Benjamin glaubte, dass sich dies durch Zitat und Montage erreichen ließe. Sein Motto: „Ich habe nichts zu sagen. Nur zu zeigen.“ Die vorgefundene hochbeschleunigte Welt der Moderne und ihre impliziten unreflektierten Artefakte wollte er nicht argumentativ erklären, sondern sie verwenden. James Baldwin scheint eine ähnliche Denkbewegung gehabt zu haben: „Ich will die Leben dieser Menschen aufeinanderprallen lassen“, schreibt er über sein Buchvorhaben, „und ihre schreckliche Reise verwenden.“ Peck zitiert diese Stelle in seinem Film und antizipiert das Verfahren für seine Vorgehensweise im Film. Benjamin schrieb in den 1930er Jahren davon, dass es gelte,

 

das Prinzip der Montage in die Geschichte zu übernehmen. Also die großen Konstruktionen aus kleinsten, scharf und schneidend konfektionierten Baugliedern zu errichten. Ja in der Analyse des kleinen Einzelmoments den Kristall des Totalgeschehens entdecken.“

 

Diese Einzelmomente stellt Peck auf die Bühne und zitiert sie vor die richtenden Augen des Publikums. Die Momente des klassischen (weißen) amerikanischen Kinos lassen den impliziten und institutionellen Rassismus in den USA in seinem Totalgeschehen chokhaft gewahr werden. Diese Zitatmontagen bilden die Totenstarre des modernen Rassismus. Performativ wird die Beschaffenheit dieses Rassismus hier deutlich. Wenn in I Am Not Your Negro der Soundtrack von Billy Wilders Ariane unter die Bilder von der Polizeigewalt gegen Rodney King gelegt wird, dann wird deutlich, dass sich quasi archäologisch rassistische Herrschaftssysteme in die Mainstreamkultur der USA eingegraben haben. Und nicht zuletzt zeigen sie, dass Geschichte in Bilder zerfällt und nicht in Geschichten. In dem Peck in seinem Film die Ursprünge des modernen amerikanischen Rassismus performativ erfahrbar macht, will er auch die Möglichkeit geben, sie in der heutigen Zeit verstehen zu können.

 

Denn was heißt es, solche Ausschnitte in diesem ganz bestimmten Kontext zu zitieren? Sie hinterfragen unseren Erfahrungsraum aufs schärfste. Sind die harmlosen Screwball-Komödien der 40er, 50er und 60er Jahre wirklich genau das - harmlos? Die philosophische Frage, die hinter all dem steht, ist von seiner Größe kaum zu unterschätzen: Wie können wir angesichts von der Verrohrung und Totalität des Rassismus alle Mensch werden?

 

Baldwin glaubte, dass die Antwort nicht nur bei Gleichberechtigung und Empowerment der schwarzen Bevölkerung zu finden sei, sondern, dass sie auch aufs engste mit der geschichtlichen Selbsterkenntnis der weißen Unterdrücker zusammenhängen muss.

 

So kommt es hier zum letzten Teil, der zeigen soll, dass chokhafte Erkenntnis auch ein Modus Operandi des Geschichtsverständnisses ist.

 

   

3.

 

Sie verlangen ein Lied von mir.

Nicht so sehr um meine Gefangenschaft zu feiern,

als viel mehr ihre eigene zu rechtfertigen.“

James Baldwin

 

 

 

Die Zitatmontagen von Raoul Peck sind keine einmaligen Einzelbeispiele. Sie sind insofern beliebig, als dass der Rassismus in den USA strukturell und institutionell ist. Der Film ruft förmlich seine Rezipienten dazu auf, die Fähigkeit zu schärfen, Kultur aus ihrem Zusammenhang zu reißen, um ihre impliziten Botschaften offenzulegen. Das Besondere: Jede Interpretation, jede kritische Verwendung eines Zitats, erzeugt nicht nur ein Artefakt; die Artefakte selber produzieren auch einen kritischen Leser. Der Umstand, dass man einen Sachverhalt genau so interpretiert und nicht anders, ist eine Selbsterkenntnis. Es ist eine wechselseitige Identitätsstiftung. Jede Interpretation, sei sie reaktionär oder progressiv, verrät etwas über die Sozialisation des Interpreten. Als kritischer Beobachter macht man die Erfahrung, dass die Wirklichkeiten, die einer chokhaften Erkenntnis inne wohnen schon immer in der eigenen Erfahrung respektive Sozialisation eingeschrieben sein müssen.

 

James Baldwin erinnert hier aber noch an die andere Seite der Medaille bei dieser therapeutischen Erfahrung der kritischen Arbeit. Er fordert alle Beteiligten in der Geschichte des Rassismus, ja in der Geschichte der USA, sich zu fragen „Wieso ist all diese Unterdrückung nötig?“ Und besonders die weißen Unterdrücker in Amerika müssen sich damit konfrontieren. Baldwin: „Wer glaubt ich sei ein Nigger, der braucht auch einen.“ Wenn sie zwar mittlerweile so weit scheinen, People of Color das Mensch-sein zuzuerkennen, dann muss die weiße Bevölkerung herausfinden, warum sie „ihren Nigger“ einst erfinden mussten. Erst wenn sich die weiße Bevölkerung ihrem impliziten und institutionellen Rassismus stellt, kann eine Therapie des Fremden in Ihnen erfolgen. Baldwin glaubt, dass nicht weniger also die Zukunft der USA davon abhängt, ob man sich dieser Frage in den USA stellt. Was bedeutet es nun für die Idee von Geschichte, die herrschende Systeme als Teil des Problems zu sehen?

 

Walter Benjamin Überlegungen aus seinem letzten Text „Über den Begriff der Geschichte“ lassen sich an dieser Stelle mehrfach an Baldwin und das Prinzip der Zitatmontage anschließen. Er schreibt in These 3: „Freilich fällt erst der erlösten Menschheit ihre Vergangenheit vollauf zu. Das will sagen: erst der erlösten Menschheit ist ihre Vergangenheit in jedem ihrer Momente zitierbar geworden.“ Die „erlöste Menschheit“ klingt nach einer starken religiösen Implikation, doch macht sie politisch gesehen deutlich, was es meinen kann, wenn sich die weißen Unterdrücker in den USA dem Fremden in sich stellen. Das Zitieren und seine Konstruktion ist schon immer ein Mittel der Geschichtsschreibung gewesen. Benjamin und Baldwin fordern – mehr oder weniger explizit - sich dieser Technik zu bemächtigen.

 

Geschichte ist bisher in der überwältigen Mehrheit eine Geschichte der Sieger gewesen. Geschichtsschreibung ist daher vor allem politisch motiviert. Viele halten dieses Phänomen vor allem in Ländern mit autokratischen Zügen wie in Erdogans Türkei oder in Putins Russland für präsent. Aber natürlich ist auch die Geschichtsschreibung in Deutschland politisch. (Als Stichwort sei nur die über 100 Jahre währende Weigerung Deutschlands genannt, den Völkermord in Namibia als eben solchen anzuerkennen.) Und wie der Film und James Baldwin zeigen, ist dies natürlich auch in den USA der Fall. Doch die Geschichte der USA ist natürlich mitnichten weiß. „Weiß ist eine Metapher für Macht.“ Und die Geschichtsschreibung lässt sich zu ihrem Handlanger machen und die Kultur(industrie) domestiziert ihre Kulturgüter dementsprechend. Benjamin brachte das mit einer berühmten Formulierung in These VII auf den Punkt: „Es ist niemals ein Dokument der Kultur, ohne zugleich eins der Barberei zu sein.“ Auch so scheinbar harmlose Beispiele wie Hollywood-Komödien sind ein Teil dieser gewaltsamen Überlieferung. Es ist die Kraft des Zitates diese Kontinuität, die vermeintlich Kohärenz aus der Geschichtsschreibung herauszuschlagen und kritisch zu beleuchten. Benjamin: „In jeder Epoche muss versucht werden, die Ueberlieferung von neuem dem Konformismus abzugewinnen, der im Begriff steht, sie zu überwältigen.“

 

Unter der Verwendung von Zitat und Montage in Raoul Pecks Film wird deutlich was im Zusammenspiel mit einer politischen Praxis chokhafte Erkenntnis im Einzelnen ist:

 

Der Chok ist eine erkenntniskritisch-(säkularisierte) Kategorie der Offenbarung. Es ist ein Moment, in dem sich die Bandbreite der Möglichkeiten von Zitation zeigt. Der Chok macht schlagartig bewusst. Erkenntnis ist hier reziprok: Ein unvermuteter Zusammenhang gibt sich zu erkennen, überwindet die historische Kluft und bindet sich an eine revolutionäre Praxis; Es ist eine therapeutische Aufgabe, Erkenntnisse dieses Choks anzuerkennen oder abzulehnen. Der offene, mehrdeutige Ansatz fordert zu dieser Aufgabe existenziell heraus. Ohne eine Arbeit am Selbst kann es zu keiner Erkenntnis kommen. Nicht zuletzt ist chokhafte Erkenntnis damit eine kritische Arbeit. Sie dekonstruiert das weltgewordene Grauen in all seiner Schäbigkeit und führt es hin zu einer realen Transzendenz der revolutionären Praxis.

 

Niemand sollte auf ein Weißes Haus warten. Remember this House hätte gezeigt, dass wir alle unsere Geschichte sind. Und Raoul Pecks Film I Am Not Your Negro tritt sein Erbe an. Jede*r sollte ihn sehen.

 

 

 

 

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